Auf der Tagung „Cool Retro Camp Trash. Aesthetic Concepts in Popular Culture“ (Freiburg, 3.-5. Mai 2018) hab ich einen Vortrag gehalten, in dem ich DJ-Praktiken unter medientheoretischen Aspekten der immediacy betrachtet habe, und diese mit performativen Aspekten und der Frage nach der „Atmosphäre“ (i.S. Gernot Böhmes, wie er sie in seinem Buch Aisthetik von 2001 konzipiert) verbunden habe. Dabei habe ich am Ende eine Performance von Dimitri Vegas und Like Mike beim Tomorrowland 2017 als Beispiel herangezogen, wie im sog. „EDM Pop“ mit Un-/Mittelbarkeit umgegangen wird. Meine These war, dass sich Techno und seine vielen Sub-Genres besonders dadurch auszeichnen, dass sie versuchen, Unmittelbarkeit im affektiven Erleben und in der Performativität entstehen zu lassen, während EDM Pop zwar das unmittelbare Erleben von Klangphänomenen ermöglicht, dieses aber sozialer Interaktion sowie Teilnahme an der referenzierten Popkultur begleitet oder gar ersetzt wird. Diese sind jedoch symbolisch vermittelte – also medial opake – Möglichkeiten des Erlebens.

Im Anschluss hat mich Christoph Jacke gefragt, warum ich bei DM&LM überhaupt den Bezug auf die Techno-Kultur brauche, und ob das aufgrund der Spektakularität der Inszenierung und Performance nicht einfach „Pop“ sei – so wie Helene Fischer auch. Damals konnte ich die Frage nicht so recht beantworten, das möchte ich hiermit nachholen:

Doch zuerst mal zwei Live-Videos:

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https://youtu.be/KOl8LjKLDLs

Dimitri Vegas & Like Mike – Tomorrowland 2017 (Full Set)

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https://youtu.be/DSA1IRCBXCQ

Helene Fischer – Stadiontour 2015 (Olympiastadion Berlin, Phänomen und Atemlos)

Bereits im anschließenden Gespräch beim Kaffee konnte ich ein paar Merkmale ansprechen, die sich besonders auf die Praktik der Mediennutzung als DJs (also: Mischpult, CD-Player) bezogen (danke auch an José für diesen Einwurf!). Meiner Ansicht nach zeigen sich Unterschiede zwischen DM&LM und Helene Fischer (bleiben wir ruhig bei diesem Beispiel) auf drei Ebenen:

  • auf der bereits erwähnten Ebene der (Medien-)Praktik: auch wenn DV&LM evtl. nicht live mixen, sondern vorgemixte Sequenzen anspielen, so sind doch einige Manipulationen des Klangs hör- und sichtbar (z.B. der kurze Filter-Einsatz bei 8:27). Und auch wenn die einzelnen Sequenzen premixed sind, so spielen sie immerhin den Start dieser Segmente selbst am CD-Player an: Sie behalten also eine DJ-typische Hoheit über das Klanggeschehen – auch wenn diese gegenüber anderen DJs reduziert ist. Fischer hingegen hat während der Live-Performance keine technisch-mediale Klanghoheit, sondern die Hoheit einer Bandleaderin: die ziemlich unumschränkte Hoheit über ihre eigene Stimme sowie bis zu einem gewissen Grad die Hoheit über die Musiker, z.B. über Gesten/Cues zum Einsatz des Instrumentenspiels. Letzteres kann ich an keinem Beispiel zeigen, es ist aber durchaus denkbar – außerdem geht es mir hier nicht um empirische Befunde, sondern um prinzipielle inszenatorische, also strategische Unterschiede.
  • Die inszenatorischen Ebene: Fischer hat eine Band, und allein schon dadurch wird sie als Popsängerin ausgewiesen, vielleicht könnte man auch sagen: BigBand-Leaderin oder Croonerin. DV&LM hingegen inszenieren sich als DJs: mit Mixer, DJ-Pult und Kopfhörer. Die Ikonografie ist hier also aus zwei unterschiedlichen Traditionen entnommen.
  • Schließlich auf der sonischen Ebene: DVLM knüpfen an EDM-Tradition an, in dem sie z.B. ravige Fanfaren-Hooks einsetzen und mit vielen Build-Ups und Drops arbeiten – kurzum: das typische und oft kritisierte sonische Instrumentarium des EDM Pop auffahren (z.B. gleich zu Beginn, 2:50, oder ab 7:50). Fischer nutzt zwar auch explizit aus aktueller Club- und EDM Pop-Musik Sounds und Produktionsästhetiken – „Atemlos“ würde auch problemlos als Track von David Guetta durchgehen. Dennoch ist die Nutzung dieser Sounds und ihr Klangbild geglättet und die genannten Form-Elemente weniger herausstechend: instrumentelle Hooks wie z. B. bei DM&LM (siehe bei 3:23) hört man bei Fischer nicht (außer in den Remixes, z.B. von Afrojack). Ihre Sounds haben bereits eine Migration und dementsprechenden „Abschliff“ durch die Pop- (und Schlager-)Welt erfahren.

An dieser Stelle: vielen Dank an Christoph Jacke für seine konstruktive Frage! Und für den (gem. mit Barbara Hornberger) verfassten Text „Zufällig gut? Über Live-Performances und Virtuositätspotentiale. Helene Fischers Berliner Auftritt im Regen“ (in: Phleps, Thomas (Hg.): Schneller, höher, lauter. Virtuosität in populären Musiken. Transcript 2017)